Der Niedergang der Sozialdemokratie
In seinem Literaturbericht identifiziert Frank Bandau vier große Erklärungen der Parteienforschung dafür, warum Wähler sozialdemokratischen Parteien davonlaufen (Bandau, Frank (2019), ‚Was erklärt die Krise der Sozialdemokratie? Ein Literaturüberblick‘, Politische Vierteljahresschrift, 60 (3): 587-609.). Diese längerfristigen Prozesse haben sich seit der Finanzkrise 2007/8 nochmals beschleunigt.
Die erste Erklärung setzt bei der Sozialstruktur der modernen Industriegesellschaft an: Die Stammwählerschaft der Sozialdemokratie – die Arbeiterklasse – schrumpft im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen. Wenn aber sozialdemokratische Parteien darauf reagieren, indem sie mehr Politikangebote für Wähler der Mittelklasse machen, verschrecken sie die Arbeiterklasse noch mehr, so dass diese weiter abwandern. Es kommt hinzu, dass Wählerschaften ihre Wahlentscheidungen nicht nur an ihrer Klassenzugehörigkeit ausrichten, sondern auch an ihrer soziokulturellen Identität. Sozialdemokraten, die ihre Politikangebote nach wie vor an der „sozialen Frage“ ausrichten, laufen deshalb Gefahr, zwischen einem links-libertären und einem rechts-autoritären Pol zerrieben zu werden. Sie schaffen es nicht, sich auf diese neue Dimension von Identität im Wahlverhalten einzustellen.
Die zweite Erklärung sieht die Ursache des sozialdemokratischen Niedergangs in den Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Zugespitzt formuliert hat die Globalisierung die Wirksamkeit des traditionell sozialdemokratischen Instrumentenkastens, den Ausbau des Sozialstaats, unterspült. Globalisierung begünstigt einseitig die Kapitalisten. Im Kontext der Europäischen Union bedeutet das, dass vom Binnenmarkt vor allem Unternehmen profitieren, nicht aber die Arbeitnehmer. Der Versuch der Sozialdemokratie, einen sogenannten Dritten Weg einzuschlagen, führte nur dazu, dass sie sich fälschlicherweise einem neoliberalen Wachstumsmodell angeschlossen haben. Die Hoffnung, dass auch Arbeitnehmer vom Wachstum profitieren könnten, hat sich jedoch nicht erfüllt.
Die dritte Erklärung knüpft an diese zweite an und bezichtigt sozialdemokratische Parteien, ihre ursprünglichen Prinzipien verraten zu haben. Statt für die Arbeitnehmer zu kämpfen, haben sie sich der Logik des Marktes und des Wettbewerbs unterworfen und eine eigene Variante der neoliberalen Ideologie entwickelt. Diese ideologische Wende hätten die Wähler bestraft.
Die vierte Erklärung betrachtet die Organisationen der sozialdemokratischen Parteien sowie deren Spitzenpersonal. Dieses Personal entstamme der Mittelklasse und bestehe aus professionellen Politikern, die kaum noch Bezug zu der typischen Wählerschaft aufwiesen. Insoweit kam es zu einer Entfremdung. Zusätzlich organisierten sich Parteien weniger als Massenorganisationen und mehr als Kartellparteien. Deren primäres Ziel sei es, dem Spitzenpersonal öffentliche Ämter zu sichern. Damit verlieren sie die Beziehungen zu den Wählern.
Soweit diese vier Erklärungen die Ergebnisse der Parteienforschung vollständig abbilden, verweisen sie gleichzeitig auf eine große Forschungslücke: Denn keine der Erklärungen befasst sich mit der Frage, ob sich denn nicht auch das politische Handlungsrepertoire der Gesellschaften und damit die Art politischer Beteiligung und Repräsentanz geändert hat. Bürger, die sich zunehmend als Individuen mit einzigartiger Besonderheit verstehen, neigen weit weniger als zuvor dazu, sich am politischen Prozess dadurch zu beteiligen, dass sie sich Gewerkschaften, Vereinen, Verbänden oder Kirchen anschließen. Individuen können ihre Einzigartigkeiten in solchen Massenorganisationen nicht zur Geltung bringen. Sie nutzen deshalb nicht mehr den ursprünglichen Kanal politischer Interessenvertreter, um sich politisch zu beteiligen. Stattdessen schließen sie sich sozialen Bewegungen an. An die Stelle organisierter Interessenvertretung tritt Kritik und Protest als bevorzugte Form politischer Beteiligung. Dies stellt alle Parteien vor besondere Herausforderungen: Sie verlieren verlässliche Partner wie Interessengruppen aus der Gesellschaft, mit denen sie konkrete Problemlösungen besprechen und aushandeln können. Gerade Regierungsparteien, die Ziel der Kritik von sozialen Bewegungen sind, treffen auf große Hindernisse, stabile Beziehungen zu diesen Bewegungen aufzubauen. Soziale Bewegungen aus einer Vielzahl höchst individueller Mitglieder sind besonders gut darin, Kritik und Protest zu bündeln und zu kanalisieren. Sie eignen sich jedoch nicht dazu, Kompromisslösungen zu finden und auszuhandeln, die über die fragmentierte Landschaft sozialer Bewegungen hinaus Gesellschaft integriert. Dies begünstigt politische Parteien, die auf Eindeutigkeit von politischen Positionen setzen, die mit jeweils spezifischen sozialen Bewegungen kompatibel sind. Dabei werden jedoch zwischen Bewegungen und Parteien tiefe Gräben geschaffen, die die Gesellschaft polarisieren. Kompromisse, die die Gesellschaft bewegungsübergreifend integrieren, sind nicht mehr gefragt. Das auf derartige Kompromisse und gesellschaftliche Integration abzielende Politikmodell der Sozialdemokratie ist deshalb aus der Mode gekommen. Volksparteien sind nicht mehr gefragt. Davon profitieren Parteien, deren Politikmodell auf Partikularismus beruht und gesellschaftliche Polarisierung betreibt.